Donnerstag, 23. November 2017

Wer redet da?



Sie hatten die 70 weit überschritten. Asthmatisch keuchend schwankten sie in das überfüllte Großraumabteil, den schweren Koffer hinter sich her schleifend. Der Mann mit seiner ca. 1,80 Meter großen Statur hatte zusätzlich an starkem Übergewicht zu tragen. Sie (seine Frau?), ebenfalls mit einigen Pfunden zu viel und deshalb bewegungseingeschränkt, verbreitete eine nervöse Hektik: "Wo sitzen wir? -- 43 und 45 – (sie schaut auf ihre Platzkarten) - wo ist das? Schnell, beeil dich, gleich fährt der Zug wieder an!" Ihre gesamte fahrige Körpersprache drückte leichte Panik aus. Da die beiden nicht sofort den Überblick hatten, behinderten sie mit ihren Körpern und dem Gepäck gleich mehrere Fahrgäste auf einmal.

Endlich! Platz 43 und 45 waren gesichtet, wurden angesteuert - und keuchend und schwitzend eingenommen, inklusive einer aufwendigen Verstauaktion einer überdimensionalen Plastiktüte in der Gepäckablage. Für den Koffer war dort oben kein Platz mehr. Im Übrigen erschien er viel zu schwer, als dass irgendjemand sich an ihm versuchen wollte. So saß man erstmal. 
Die anderen Fahrgäste, die dieses Szenario genauso gespannt wie ich verfolgt hatten, entspannten ihre Gesichter und lehnten sich wieder gemütlich in ihren Sitzgelegenheiten zurück mit dem Gefühl der Sicherheit, dass der Stress nun ein Ende hatte. 

-- 30 Sekunden -- nein 60 Sekunden vergingen. Da erhob sich der Schwergewichtige erneut stöhnend von seinem Platz (der Sitz war für ihn etwas zu eng), entledigte sich seiner Jacke (ihm war heiß) und hatte gleich darauf einer geflüsterten Anweisung seiner Gattin zu folgen, da er sowieso gerade stand: "Die Tüte! Die Tüte!" Ach ja, die überladene Plastiktüte. Gerade vor zwei Minuten verstaut wurde sie nun wieder aus dem Gepäckhalter gehievt. Sie landete bei der Frau auf dem Schoß. Nach gründlicher Inspektion des Inhaltes kam ein größeres Vesper-Paket zum Vorschein, gefolgt von einer Zeitung und zwei Getränkedosen. 
Dann: Tüte wieder verschließen, erneut auf den Gepäckhalter zurück stemmen, endlich schnaufend seinen Platz einnehmen -- der Mann saß wieder. In der folgenden Aktion wurde knisternd das Vesper-Paket geöffnet, der Inhalt gerecht geteilt und zeitungslesend eingenommen. Uff, endlich Ruhe!

Ein friedliches Bild: 
Zwei Menschen, deren Miteinander sich über viele, viele Jahre eingespielt zu haben scheint, deren nonverbale Sprache deutlicher ist als viele Worte es sagen könnten, sitzen nun nichtsahnend in meinem Blickfeld. Ich kann meine Augen nicht von ihnen lösen. Und wieder einmal frage ich mich, wie es wohl sein mag, miteinander alt zu werden: 
Da stimmt jeder Handgriff, die Fronten sind abgesteckt, die Macken des anderen weitgehend toleriert. Jetzt sitzt man gemeinsam im Zug Richtung Süden. Vielleicht winkt ein Besuch bei den Kindern und Enkelkindern, vielleicht aber auch eine schöne Zeit zu Zweit in den Alpen -- als Beobachter weiß ich es nicht. Jetzt, wo sie endlich sitzen, hat das Leben wieder eine gewisse Ordnung, die Unsicherheiten der letzten halben Stunde sind erst mal ausgestanden. Nun scheint es gut zu sein. Oder?

Wir erreichen Koblenz. Ein kurzer Aufenthalt. Der Zug steht. Der Mann erhebt sich. Was ist jetzt wieder? Ach so, er will rauchen. Die paar Minuten Aufenthalt lassen sicher eine kurze Zigarette auf dem Bahnsteig zu. So verschwindet er eine Zeitlang. Sie, seine Frau, ergreift inzwischen die Gelegenheit beim Schopfe, um Kontakt mit einer Gleichaltrigen zu knüpfen. 
Der Bahnservice bringt Kaffee. Die horrenden Preise scheinen die beiden Damen nicht abzuschrecken. Jede einen Kaffee, bitte. Ja, danke. "Zum Kaffee muss ich immer eine Kleinigkeit dazu essen. Darf ich Ihnen auch etwas anbieten?" (Hatte sie nicht gerade ...?) Die Sitznachbarin ist nicht abgeneigt: "Ach, doppelt geröstete Brotchips mit Paprika-Geschmack! Wie lecker!" -  "Ja, greifen Sie ruhig zu, lassen Sie sich nicht bitten!" 
Die rheinische Frohnatur ist in ihrem Element. Ganz Gastgeberin, ganz großzügig. 
Süß, denke ich. Die beiden Frauen sind in diesem Großraumabteil die einzigen, die einige kommunikative Annäherungen wagen. Jeder bekommt es mit, denn ansonsten herrscht hier Schweigen, manchmal unterbrochen vom Geräusch des Umblätterns verschiedener Zeitschriften oder dem Piepton einer SMS oder WhatsApp auf ein Handy. 

Ich bin gespannt: Wie geht's weiter? Welche Themen gibt es noch? Ach ja: "Wunderbares Reisewetter. Finden Sie nicht auch? Nicht zu heiß, aber auch kein Regen, sodass man was von der Landschaft sieht ..." und so plaudert man fröhlich und ungezwungen daher.

'Was wären wir Menschen ohne Kommunikation?', denke ich. Wie still, wie einsam wäre der Mensch ohne einen Ansprechpartner. Doch nicht jeder nutzt die Gelegenheiten. Schweigend sitzen wir ganze Strecken unseres Lebens nebeneinander, lernen uns weder richtig kennen noch schätzen. Denn nur die Ansprache an den anderen, das Miteinanderreden schließt uns einander auf.

Das, was wir Menschen untereinander schon nicht geregelt bekommen, läuft auf der Beziehungsebene mit Gott, unserem Vater, oft noch viel schweigsamer ab. Unsere Sprachlosigkeit macht uns beziehungsunfähig. Oder ist es umgekehrt? Macht uns unsere Beziehungsunfähigkeit sprachlos? Wie dem auch sei - wir müssen an einer Stelle beginnen, diesen Kreislauf zu durchbrechen. 
Lernen wir wieder das ungezwungene Mitteilen, Reden mit unserem Vater im Himmel: "Vater Gott, ist das Wetter nicht schön? Ich freue mich über die Sonne, über die Landschaft, die sanft an mir vorbeigleitet. Das Wasser, der Rhein neben den Bahngleisen sind für mich ein wunderschönes Bild des Friedens. Leichter Nebel liegt auf dem Wasser. Er signalisiert hohe Luftfeuchtigkeit. Rechts in den Hängen stehen kleine, hübsche Häuser, Waldstücke ... Siehst du es auch, Vater?"
Ich kann die Antwort "hören": "Mein liebes Kind, ich sehe dich und bin so froh, dass du deine Gedanken mit mir teilst. Darauf muss ich oft viel zu lange warten. Aber ich warte."

Ich möchte lernen, viel mehr meine Gedanken mitzuteilen, meinem Vater im Himmel, aber auch meinen Nächsten. Was für eine Veränderung könnte geschehen, nicht zuletzt an mir selbst.
"Danke, Vater, dass ich heute morgen völlig von dir und deiner Liebe überrascht worden bin. Du hast -- so sehe ich es -- diese beiden Menschen in dieses Abteil geschickt, um meine Gedanken auf dich zu lenken und zu mir reden zu können. Danke für deinen Humor! Und für das Hören deiner Stimme."

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